Ursula Neugebauer
schwarzer Schnee

21. März – 12. Mai 2024

Eröffnung:
20. März 2024, 19:00 Uhr

Ursula Neugebauer, Jahresring 1945, 2023/24, Foto: Roland Schmidt

Die Berliner Konzeptkünstlerin Ursula Neugebauer schreibt ihr bereits 1998 begonnenes Projekt „schwarzer Schnee“ fort, für das sie wiederholt auf Spurensuche ins polnische Dzwonów (ehemals Schellendorff) gereist ist, dem Geburtsort ihrer Mutter, den diese nach ihrer Flucht 1945 nach Westdeutschland nie wieder besucht hat. Der Kunstraum dient der Künstlerin als Bühne, auf der die einzelnen Exponate im Zusammenspiel requisitenartig einen assoziativen Erinnerungs-Parkour bilden: Gesprächsaufnahmen sind zu sehen und hören, die dörfliche Umgebung wird performativ durchschritten, eine Baumscheibe der just gefällten Friedhofskastanie dient als Zeitachse, das historische Foto einer jungen Frau im Ruderboot schwebt fluide projiziert im Raum, ihr Rock stellt sich modellartig in den Weg und tritt in Korrespondenz mit seinen voluminös auf- und niederfahrenden „Geschwistern“.

Die Ausstellung wird kuratiert von Alexander Steig

Programm der Ausstellung:

Kuratorenführung
Freitag, 5. April 2024, 17:00 Uhr

Künstleringespräch und Katalogpräsentation mit Ursula Neugebauer und Alexander Steig
Sonntag, 12. Mai, 17:00 Uhr

Die Ausstellung wird gefördert durch eine Mitgliederspende und die Finbridge GmbH & Co KG.

At Kunstraum München, Ursula Neugebauer is showing her „black Snow“ project, which has been progressing since 1998 and for which she has repeatedly traveled to Dzwonów (PL), formerly Schellendorf, the birthplace of her mother, whom she never visited again after fleeing to West Germany in 1945. Neugebauer uses the rooms as a stage on which the individual exhibits interact like props to form an associative memory course: Recordings of conversations can be seen and heard, the village surroundings are performatively a tree slice from the cemetery chestnut tree felled in 2023 serves as a timeline, the historical photo of a young woman – the artist’s mother – in a rowing boat floats fluidly projected in the space, her skirt stands in the way like a model and enters into correspondence with its voluminous up and down and descending „siblings“. With „black Snow“, Ursula Neugebauer succeeds in transposing the subjective approach of this intimate research into a universal, over-private staging and uses her aesthetic vocabulary to confront the audience with concrete questions about the consequences of flight and displacement, the associated physical and psychological devastation of future generations, but also the idea of family, of belonging and self-empowerment in general. Through the constellation of the exhibits and their presence in the media, the artist creates a space for reflection, a temporary memorial that is both sensually and intuitively challenging, but also intellectually challenging and allows for the continuation of their own experiences.

Exhibition Program:

Guided tour with curator Alexander Steig
Friday, April 5, 2024, 5:00 p.m

Artist talk and book launch with Ursula Neugebauer and Alexander Steig
Sunday, May 12, 5:00 p.m.


Foto: Thomas Splett

Die in Berlin lebende und an der Universität der Künste Berlin lehrende Konzeptkünstlerin Ursula Neugebauer beschäftigt sich – mehrheitlich projektorientiert – mit gesellschaftlichen Wahrnehmungsprägungen und Zuschreibungstendenzen des (weiblichen) Körpers. Vorausgehende, umfängliche Recherchearbeit führt dabei zur Entnahme, Sammlung und Sichtung zunächst fragmentarischer (Fund-)Stücke, die als Dokumentationsvideos von Orten und Personen, als (Interview-)Texte, als „Körpermaterial“ (z. B. Haare, Bekleidung, Abformungen), als historische Materialzeugnisse (Fotografien, biologische Substrate, Kulturgüter), ergänzt um eigene skulpturale, kinetische und optische Beiträge, zu multimedialen Environments führen. Ihr Selbstbezug variiert graduell, dient aber immer als werkimmanente Matrix für einen offenen Zugang, führt uns Ursula Neugebauer doch in die Auseinandersetzung mit „zugewiesener“ Körperlichkeit und Rollenvergabe und deren Annahme wie Ablehnung.

Die tradierten Zwänge und Rituale, die „Korsagen“, die gerade durch deren Festschreibungen Stabilität und Orientierung versprechen wollen, werden durch den stofflichen Transformationsprozess der Künstlerin aus der soziologischen Debatte befreit und erfahren dabei eine Entlastung, d. h. Ursula Neugebauer überführt durch ihren persönlichen, teils privaten Zugang ihre Unternehmungen auf eine vielleicht poetisch zu nennende Ebene, schafft es, der Ernsthaftigkeit ihrer Themata ein positiv besetztes Moment zuzueignen, so dass – ob minimalistisch, wie ihre Haarzeichnungen und Glasgravuren, oder vital-ausufernd, wie ihre großflächigen Pflanzungen oder „tanzenden“ Stoffe, den Betrachter und Betrachterinnen ein zunächst eher intuitiver Zugang ermöglicht wird.

Für den Kunstraum München hat Ursula Neugebauer in ihrer ersten institutionellen Einzelausstellung in der bayerischen Landesmetropole das bereits 1998 begonnenes Projekt „schwarzer Schnee“ fortgeschrieben, für das sie wiederholt auf Spurensuche ins polnische Dzwonów (ehemals Schellendorf) gereist ist, dem Geburtsort ihrer Mutter, den diese nach ihrer Flucht 1945 nach Westdeutschland nicht wieder aufgesucht hat. Neugebauer nähert sich deren Person, auch Persönlichkeit und Herkunft multimedial an und nutzt dafür die zwei Etagen des Hauses als Bühne: Im Erdgeschoss bewegen sich in lichtlosem Raum zwei schwarze, identisch anmutende Röcke asynchron in verschiedenen Tempi der titelgebenden (Ballett-)Figur „en l’air – à terre“ auf und ab. Aus den Röcken strahlen Lichtkreise, deren Kegel sich nach oben hin erweitern und nach unten hin verjüngen, um beim Aufsetzen der Kleidungsstücke gänzlich zu verschwinden, so dass der Raum in gewissen Momenten lichtlos schweigt – nur kurz, dann setzt sich das gleiche/ungleiche Paar wieder in Bewegung, beginnt den gravitätischen Lichttanz von neuem.

Den engen Aufstieg in das obere Stockwerk bekleiden und begleiten Wortkaskaden, genauer: Titel der zu erwartenden Arbeiten. Vogelgezwitscher und Stimmen rücken näher. Der Raum öffnet als Kaleidoskop, die einzelnen Exponate bilden im Zusammenspiel requisitenähnlich einen assoziativen Erinnerungsparcours. Die beiden Gesprächsaufnahmen, die Filmporträts von „Bogumila“ und „Felicja“, die im Treppenhaus anklangen, erzählen von deren eigener Umsiedlung aus der Ukraine Anfang der 1950er Jahre… Ihre Erinnerungen erzeugen zusammen mit dem „Naturkonzert“ der drei „Videofenster“ „Dorf“, „Friedhof“ und „Mohn“ und dem Rauschen eines Ventilators einen gedämpft pulsierenden Resonanzraum – bildlich wird die dörfliche Umgebung performativ durchschritten und historisch eingefangen, der schwarze Rock, dem wir dabei durch die mohnroten Felder folgen, stellt sich modellartig in den Weg, lässt uns beim Blick von oben ins Bodenlose, quasi durch die Decke in die Dunkelheit des Erdgeschosses schauen und tritt in Korrespondenz mit seinen voluminös auf- und niederfahrenden „Geschwistern“.

Eine Baumscheibe der just gefällten Friedhofskastanie dient als Zeitachse; dem zunächst naturwissenschaftlich anmutende Exponat wird durch exakte Fixierung über mäandernde Nadeln das Fluchtjahr rot eingeprägt und möchte über den „Jahresring 1945“, der keinen Kreis formt, Orientierung anbieten, doch gegenüber im Saal schwebt unstet das historische Foto einer jungen Frau im Ruderboot – die Mutter der Künstlerin –, fluide projiziert im Raum. Statik und Bewegung, Fort- und Rückschreiten vermeiden ein Festlegen, legen aber die Bezüge der Ereignisse bzw. Erscheinungen offen und sind auch hier Elemente, die der Vielschichtigkeit des Themas Rechnung tragen.

Neugebauer gelingt es mit „schwarzer Schnee“, den subjektiven Zugang dieser intimen Recherche in eine universelle, überprivate, zeitlos aktuelle Inszenierung zu transponieren. Mit ihrem ästhetischen Vokabular konfrontiert sie das Publikum mit konkreten Fragen zu den Folgen von Flucht und Vertreibung, den damit einhergehenden körperlichen wie seelischen Versehrungen auch nachkommender Generationen, aber auch mit der Idee von Familie, von Zugehörigkeit bis hin zur Selbstermächtigung allgemein. Die Künstlerin erschafft durch die Konstellation der Werke, deren fragmentierter Körperlichkeit, durch Multimedialität und materielle Heterogenität das Paradox eines ephemeren Erinnerungsortes, überführt den Kunstraum München in ein transitorisches Memorial, das sowohl sinnlich-intuitiv, aber eben auch intellektuell fordert und die Fortschreibung eigener Erfahrungen zulässt.

Ursula Neugebauer hat exklusiv für den Kunstraum die Edition „Meer ohne Horizont“ (Auflage: 12, Gravur in Glas, 29,7 x 21 cm, 2024) produziert, die während der Ausstellungszeit zum Subskriptionspreis von € 310,- (regulär: € 350,-) erworben werden kann. Zum Ende der Ausstellung legt die Künstlerin mit der gleichnamigen Publikation „Meer ohne Horizont“ (Verlag für moderne Kunst, Wien 2024) einen umfänglichen, von Cem Koc gestalteten Katalog vor, der neben „schwarzer Schnee“ vier weitere Projekte Neugebauers mit begleitenden Texten von Gerda Ridler, Matthias Reichelt und Alexander García Düttmann vorstellt.

Ursula Neugebauer (*1960) studierte Bildende Kunst an der Kunstakademie Münster sowie Literaturwissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität. Sie unterrichtete zunächst als Studienrätin und arbeitete anschließend als Kunsttherapeutin an der Universitätsklinik Münster. Nach dreijähriger Dozentur am Fachbereich Architektur der Technischen Universität Berlin lehrt sie seit 2003 als Professorin an der Universität der Künste Berlin. Zahlreiche nationale wie internationale Ausstellungen, Projekte und Beteiligungen, 2023 im Kunstraum Villa Friede, Bonn,
am Unique Art Center, Chengdu, China, im Q21 showrooms, MQ, Wien und auf der Chengdu Biennale, China.